Konstrukte 1. und 2. Ordnung

Konstrukte 1. und 2. Ordnung

Beitragvon SiSta » Mo 29. Jul 2013, 10:12

Hallo!

als SEM-Anfängerin habe ich Fragen zu grundsätzlichen „Gestaltungsregeln“ für SEMs.

Ist es methodisch zwingend notwendig, immer ein Konstrukt 1. Ordnung und ein Konstrukt 2. Ordnung im Modell zu haben? Oder kann man quasi nur die 1. Ordnungsebene betrachten, d.h. nach meinem Verständnis nur die Dimensionsebene zu betrachten, die dann ja quasi meine Konstrukte wären.
An einem Beispiel verdeutlicht: Ich möchte den Einfluss verschiedener Verhaltensweisen des Anbieters auf die Kundenzufriedenheit messen. In qualitativen Interviews habe ich dazu verschiedene Gruppen von Verhaltensweisen identifiziert (z.B. ‚Aktivitäten der Prozessplanung‘, ‚Sozial kompetentes Verhalten‘), die ich jeweils mit mehreren Indikatoren beschreibe. Muss ich jetzt die verschiedenen Verhaltensdimensionen einem noch übergeordneten Konstrukt 2. Ordnung unterstellen, wie z.B. „Anbieterverhalten in der Interaktion mit dem Kunden“ oder reicht es direkt bei den Dimensionen zu beginnen?

Wichtig ist für mich, dass ich den Einfluss der einzelnen Gruppen von Verhaltensweisen auf die Kundenzufriedenheit messen kann, um Aussagen über unterschiedliche Wirkungsstärken treffen zu können. Dies wäre aus meiner Sicht nicht mehr möglich, wenn ich die Verhaltensgruppen in einem Konstrukt zusammenfasse. Dann kann ich nur die Wirkung des Gesamtkonstrukts auf die Kundenzufriedenheit messen und nicht mehr der einzelnen Dimensionen, oder wie verhält sich dies?

Sofern es methodisch möglich ist, die Dimensionen einzeln zu betrachten, hätte ich auch kein Problem damit, ein (in meinem Fall formatives) Konstrukt 2. Ordnung zu schaffen. In einer anderen Dissertation habe ich allerdings gesehen, dass der Verfasser keine Hypothesen zu der Wirkung der einzelnen Dimensionen trifft, sondern eben „nur“ bzgl. der Wirkung des Gesamtkonstrukts auf andere Konstrukte.

Es stellt sich natürlich die Frage, bewege ich mich überhaupt noch im Themengebiet der SEMs, wenn ich kein Messmodell 2. Ordnung habe? Oder muss man dann methodisch eine andere Vorgehensweise wählen (z.B. Regression)?

Ich wäre sehr dankbar, wenn mir hierzu jemand Klarheit verschaffen könnte, bevor ich gleich in den Anfängen etwas Grundlegendes falsch mache. :shock:

Vielen Dank und viele Grüße,

SiSta
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Re: Konstrukte 1. und 2. Ordnung in

Beitragvon Holgonaut » Mo 29. Jul 2013, 21:47

Hi SiSta,

zentral ist erstmal, dass du den Begriff "Konstrukt" ausblendest/vermeidest. Konstrukte sind völlig unklare Begriffe für ein SEM. Eine (am besten latente) Variable in einem SEM ist eine spezifische Dimension, von der du annimmst, dass sie in der Realität existiert, nach irgendwelchen Gesichtspunkten variiert (z.B. Stärke, Häufigkeit) - daher "Variable" und die Effekte auf andere Variablen hat.

Wenn du von "Gruppen von Verhaltensweisen" sprichts, die du "mit mehreren Indikatoren beschreibst", klingt das für mich per se schon mal nach einem Index/Aggregat (stellenweise als formatives Konstrukt bezeichnest). Außer du hast ein Verhaltensmuster konzeptualisierst, dessen Indikatoren dieses eine Muster reflektieren und somit austauschbar wären. Beispiel für die latente Variable "Kollegialität" wären "ich helfe oft Kollegen", "wenn Kollegen Hilfe brauchen, bin ich für sie da", "wenn Kollegen etwas brauchen können sie sich auf mich verlassen". Alle 3 items sind (hoffentlich) Ausdruck einer einzigen zugrundeliegenden latenten Variable (was zu testen wäre). Extremer formuliert solltest du in der Lage sein (wenn du EINEN Indikator auswählen müsstest), das Verhaltensmuster mit diesem einen Indikator zu reflektieren / messen. So wäre das erste Beispiel oben mein Kandidat, weil es *meinem* Verständnis der latenten Variable am nächsten kommt, während im zweiten sowas wie Spontanität und im dritten sowas wie Verlässlichkeit mitschwingt, was die Hypothese, dass alle drei die selbe gemeinsame Ursache messen, falsifziert.

Wenn immer das Verhaltensmuster verschiedene Facetten aufweist, hast du ergo verschiedene Variablen. Ein Indiz dafür ist, das man bei dem o.g. Extrem das Gefühl hat, das bei Verwendung nur eines Indikatoren irgendwas fehlt (z.B. wenn mein Verständnis von Kollegialität was "Breites" (ergo Multidimensionales) ist.

Das mit der 1. und 2. Ordnung interpretier ich als second-order-Faktor (korrekt?). Das machst du dann, wenn du der Meinung bist, dass den verschiedenen latenten Variablen im Modell wiederum eine zentrale gemeinsame Ursache zugrunde liegt - und DIESE für Effekte auf abhängige Variablen relevant ist. Man muss in einem SEM erst mal gar nix - stattdessen spezifizierst du ein Netz kausaler Effekte, das sowohl gemessene als auch latente Variablen beinhaltet.

Wenn du die Daten noch nicht erhoben hast, macht es auch Sinn, sich über sog. instrumentalvariablen Gedanken zu machen - d.h. Prädiktoren der unabhängigen Variablen im Modell, die nur mit diesen unabhängigen Variablen korrelieren - aber nicht mit der/den AVs. Diese helfen enorm (wenn sie funktionieren), die geschätzten Effekte der unabhängigen Variablen auf etwas solidere Füße zu stellen - was die kausale Interpretation anbelangt.

Siehe:
http://www.hec.unil.ch/jantonakis/causal_claims.pdf

Grüße
Holger
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